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Thüringen: Ein weltoffenes Bundesland

Thüringen ist ein weltoffenes Bundesland. Nur geraten Selbstverständlichkeiten in Zeiten schriller Töne leicht ins Abseits. Frauen und Männer, Vereine, Unternehmen und Institutionen haben sich deshalb in einem Bündnis für Demokratie und Toleranz zusammengetan.

Von Christiane Fenske und Maximilian Schroth

Weltoffenheit fängt schon beim Espresso an. Den Gedanken gibt Friederike Spengler dem Reporter mit auf den Weg. „Weltoffenheit ist eine Haltung, die auch banale Dinge betrifft, etwa italienischen Kaffee“, sagt die Regionalbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). „Manche Einflüsse fremder Kulturen wollen wir doch in unserem Alltag nicht missen.“

Gründung des Zivilbündnisses „Weltoffenes Thüringen“

Um Weltoffenheit geht es auch in einem Bündnis, das sich in Thüringen im Herbst 2023 gegründet und Anfang Februar der Öffentlichkeit vorgestellt hat: „Weltoffenes Thüringen“ ist das größte und breiteste Zivilbündnis, das sich im Freistaat je formiert hat. Knapp 7000 Menschen, Vereine und Institutionen haben sich in dem Netzwerk zusammengeschlossen, darunter auch die EKM, um für ein vielfältiges Thüringen, die Achtung der Menschenwürde, eine plurale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzutreten – eigentlichSelbstverständlichkeiten, die seit einigen Monaten und Jahren in Thüringen und anderen Bundesländern nicht mehr unantastbar zu sein scheinen. Das Bündnis will die demokratische Mehrheit repräsentieren und die Hoheit über die Erzählung ihres Bundeslands zurückgewinnen.

Eine starke Gemeinschaft für Toleranz und Demokratie

SuperIllu stellt hier Thüringer vor, die sich dem Bündnis angeschlossen haben. Wir lassen Menschen zu Wort kommen, die sich schon lange für die Gemeinschaft einsetzen. Auf Fahrten nach Altenburg, Weimar, Erfurt und Nordhausen sehen wir an etlichen Fassaden und Rathäusern das bunte Banner des Bündnisses hängen. Unsere Gesprächspartner sprechen die vielen gleichzeitigen Krisen dieser Zeit an, die bei zahlreichen Mitmenschen für Verunsicherung sorgen. Darüber machen sie sich Gedanken. Denn ihr Bundesland driftet nach rechts. Rund 1,8 Mio. Thüringer werden am 1. September einen neuen Landtag wählen. Umfragen zufolge könnte die in Thüringen vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestufte AfD bis zu 34 Prozent erreichen (Stand Januar 2024).

Hürden werden genommen

Vergeblich ist die Ausgangslage deshalb nicht. Schon einmal ist es einem Bündnis gelungen, das Ruder herumzureißen, erzählt Alexander Scharff von „NordhausenZusammen“. Im Herbst 2023 hätte dort erstmals in Deutschland die AfD einen Oberbürgermeister stellen können. Nach dem ersten Wahlgang lag der Kandidat fast 20 Prozent vor dem zweitplatzierten parteilosen Amtsinhaber. 30 Engagierten gelang es, in zwei Wochen scheinbar „ohnmächtige Nordhausener“ zu mobilisieren. Amtsinhaber Kai Buchmann gewann deutlich.

Schwindendes Selbstverständnis im ländlichen Raum

Der Thüringen-Monitor, eine repräsentative Bevölkerungsbefragung zur politischen Kultur im Freistaat, brachte 2022 (aktuellste Auflage) zutage, dass „die Zufriedenheit mit Praxis der Demokratie und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen (…) im Vergleich zu den Vorjahren stark zurückgegangen sind und sich auf dem niedrigsten Niveau seit 16 Jahren befinden.“ Insbesondere in ländlichen Regionen sei die Unterstützung der Demokratie auf einem sehr geringen Niveau, während demokratiegefährdende Einstellungen wie Rechtsextremismus, Populismus und Antisemitismus dort stärker vertreten seien. Vor dem Hintergrund verwundert es wenig, dass SuperIllu viele Menschen vergeblich anfragt, mit uns über ihr Thüringen zu sprechen... Schließlich tun es einige doch. Es entsteht der Eindruck, dass Menschen gerade in kleineren Orten genau abwägen, ob sie sich in den Medien zum Bündnis positionieren. In einer Mail antwortet Unternehmerin Stefanie Bründel aus Roßleben-Wiehe: „Obwohl Weltoffenheit in Thüringen und Deutschland in allen Bereichen und Branchen, auch für Handwerk und Wirtschaft, wichtig und eine Selbstverständlichkeit sein sollten, müssen wir leider feststellen, dass dieses Selbstverständnis schwindet. Rechtspopulisten und Rechtsextreme versuchen mit den Mitteln der Demokratie diese auszuhöhlen und machen sich die Sorgen der Bürger zunutze, schüren Ängste und Hass und spalten, statt zu einen und Lösungen zu bieten.“

© PR

Stimmen aus Thüringen

Im Rahmen der Recherche zum Report wurden in Thüringen Stimmen aus der Bevölkerung gesammelt und hier dargestellt:

„Statt Gräben zu schließen, spalten Populisten die Gesellschaft“ - Pauline Lörzer (Heimatbund Thüringen)

„Das Problem ist, dass die Leute nicht miteinander reden. Wenn wir Leute zusammenbringen und anderen zuhören, schaffen wir Akzeptanz füreinander! Unternehmerin Christine Büring organisiert in Altenburg Begegnungsorte, an denen sich Menschen austauschen können. 

„Bei uns ist jeder willkommen. Vor meinem Wechsel nach Erfurt hatte ich Bedenken wegen des Klimas im Land. Aber ich fühle mich wohl“ - Basketballprofi Noah Kandem. Sein Verein ermöglicht Kindern und Jugendlichen einen niedrigschwelligen Zugang zum Basketball. Die Basketball Löwen Erfurt spielen in der 2. Bundesliga ProB. Sportdirektor Florian Gut: „Unsere Profisportler sind wertvolle Vorbilder für sie.“

„Eine Gesellschaft ist nur so stark, wie sie ihre Schwächsten behandelt. Die Ausgrenzung von Menschen, ganz egal, wo sie herkommen, führt nur dazu, dass wir uns selbst schaden.“ - Dr. Friederike Spengler ist Regionalbischöfin in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, repräsentiert 400 000 Christen. Die Ziele des Bündnisses seien auch die Ziele der Kirche.

„Wir sind und bleiben bunt wie Konfetti und lassen uns das nicht nehmen!“ - Karnevalpräsident Matthes. Karneval hat in Thüringen eine 500-jährige Tradition.

„Nur Austausch kann Vorurteile abbauen. Über die Vereine finden Menschen schnell Anschluss in unsere Gesellschaft.“ - Thomas Schmidt vom FSV Ilmtal-Zottelstedt leistet mit seinem Sportverein viel Integrations- und Inklusionsarbeit. Dort können Geflüchtete sowie Menschen mit geistiger Behinderung auch ohne Mitgliedschaft am Vereinsalltag teilnehmen, nehmen das Angebot gerne an.

„Wir brauchen Zuwanderung. Die meisten Migranten wollen arbeiten, bekommen aber erst sehr spät eine Arbeitserlaubnis. Das Problem ist die deutsche Bürokratie.“ - Katrin Brauer leitet ein Reiseunternehmen in Nordhausen. Schon jetzt kann sie offene Stellen kaum nachbesetzen. Sie beschäftigt zwei ausländische Busfahrer, die sich gut integriert haben.

„Bei mir kaufen Kunden aus aller Welt ein. Mir liegt Weimar sehr am Herzen, das gerade durch die bunte Mischung an Menschen so lebenswert ist.“ - Silvia Kämpfer ist Inhaberin eines Ladens für Tierbedarf in Weimar. Sie lebt gerne in der Stadt, findet den Rechtsruck und die aufgeheizte Stimmung beängstigend. Sollten Touristen fernbleiben, wären die wirtschaftlichen Folgen für sie fatal.

Populismus schadet dem Miteinander und der Wirtschaft

Auch Katrin Brauer, Inhaberin eines Busreiseunternehmens in Nordhausen, empfindet die Lage mit Blick auf die Wahl besorgniserregend. Vieles würde schlecht geredet, obwohl es allen immer noch gut gehe. Sie schäme sich für den schlechten Ruf Thüringens. „Populismus ist schädlich für die Wirtschaft, weil der schlechter werdende Ruf Menschen verunsichert. Viele Unternehmen sind auf Zuwanderung angewiesen.“ Das betrifft nicht nur große Firmen, wie den Süßwarenhersteller Viba Sweets aus Schmalkalden mit 350 Beschäftigten, sondern auch kleine Mittelständler wie eben Brauer-Busreisen. Zwei Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan hat Katrin Brauer angestellt. Die Integration sei anfangs wegen der Sprachbarriere und auch wegen mancher Vorurteile von Kollegen schwierig gewesen. „Doch die beiden leisten gute Arbeit und sind mittlerweile geschätzt.“ In Nordhausen sei Rechtsextremismus überall sicht- und hörbar, sagt Katrin Brauer noch. „Wenn die Regierung nicht bald ihre Politik ändert, laufen immer mehr Menschen in die Arme der Populisten.“

Mancherorts fehlen Berührungspunkte

Im ländlichen Raum fehlen oft noch Berührungspunkte mit fremden Kulturen. Da die immer näher kämen, mache das manchem Angst, sagt Christine Büring aus Altenburg. „Dem kann man nur durch Austausch begegnen.“ Auch Thomas Schmidt vom Sportverein FSV Ilmtal-Zottelstedt berichtet von Vorbehalten gegenüber anderen Nationen. „Wir haben Mitglieder aus aller Herren Länder; Menschen mit Behinderung sind bei uns aktiv. Ein Verein ist ein Querschnitt der Gesellschaft, hier sind alle Meinungen vertreten. Auch unter unseren Mitgliedern gibt es Vorurteile. Die bauen wir ab, indem wir die Leute zueinander bringen.“

Demokratie wird im Kleinen gesichtert

Wissenschaftler betonen, dass Demokratie im Kleinen gesichert wird und dass es übersteigerte Erwartungen gäbe, was Politik leisten kann. „Wir müssen selbst mehr Verantwortung übernehmen, auch im Kleinen“, sagt Prof. Roland Verwiebe (s. Interview). Wer sich in einem Verein einbringt, trifft andere Menschen, andere Ansichten. Zudem ist das Vereinsleben meist mit einem Zweck verbunden: Man macht etwas, von dem auch andere profitieren. In der Vereinsarbeit steht Thüringen stabil da. Mit 8,9 eingetragenen Vereinen auf 1000 Einwohner liegt man bundesweit auf Platz drei. Größer ist die Dichte nur in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Christoph Matthes steht als Präsident des Landesverbands Thüringer Karnevalvereine 333 Mitgliedsvereinen mit 30000 Mitgliedern vor. Der Landesverband hat sich dem Bündnis „Weltoffenen Thüringen“ angeschlossen. Würden etwa Homosexuelle oder Menschen mit Behinderung ausgegrenzt, gäbe es seit Jahren kein Prinzenpaar mehr, betont er. Aus Sorge um die Landtagswahl hat sich das Präsidium mit der Frage befasst, wie man mit einer AfD-Regierung umginge. „Wir würden unseren Umzug erst recht vor dem Landtag abhalten, mit Kopftuch und allem, was bei uns dazu gehört. Wir zeigen, wie bunt wir sind.“ Über den Nachwuchs sorgt sich der Präsident nicht. Man verzeichne Zuwächse bei den unter 18-Jährigen. Junge Mitglieder binde man früh in Entscheidungen ein. „Wer Verantwortung übernehmen darf, wurzelt hier auch.“

© Sandra Scholz | Universität Potsdam
Roland Verwiebe

Interview mit Dr. Roland Verwiebe - Experte für sozialer Ungleichheit und Wertewandel

Von Jana Schellschmidt

Krisen, Streit und Unzufriedenheit, wohin man blickt im Land: Wie kann man wieder zusammenfinden? Das haben wir Dr. Roland Ver- wiebe gefragt. Er forscht an der Uni Potsdam zu sozialer Un- gleichheit und Wertewandel.

Herr Dr. Verwiebe, warum ist die Stimmung aktuell so aufgeheizt im Land?

Der schlechte Zustand von Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und öffentlicher Infrastruktur, Personalmangel, Klimawandel, wachsende Zuwanderung - wir sind mit einer Vielzahl von Krisen konfrontiert und das ist eine neue Erfahrung für uns. Dazu kommen materielle Sorgen, die hohe Inflation, wachsende soziale Ungleichheit schwindendes Vertrauen in die Politik. Und: Bis zu 50 Prozent der Deutschen glauben mittlerweile, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äußern können.

Woher kommt diese Wahrnehmung, dass man nichts mehr sagen kann?

Weil es aus meiner Perspektive bei zentralen Debatten eine Verengung des Diskurses gibt, auch in den Medien. Zum Beispiel in der aktuellen „Taurus“-Diskussion: Mehr als die Hälfte der Deutschen findet es richtig, dass der Kanzler die Raketen nicht in die Ukraine liefert - in den Medien hört man aber fast nur Stimmen, die ihn dafür kritisieren. Oder: Im Osten sind viel mehr Menschen für Verhandlungen im Ukraine-Krieg statt für Waffenlieferungen - zu welchen Parteien sollen sie gehen? Sie haben keinen politischen Ort mehr. Zumindest nicht bei den bürgerlichen Parteien.

Haben Ostdeutsche wegen ihrer Geschichte eine größere Erwartungshaltung an den Staat?

Eine interessante Frage. Ich glaube, es gibt - im Durchschnitt - völlig übersteigerte Erwartungen, was Politik faktisch leisten kann angesichts der Vielzahl der strukturellen Probleme. Zum Beispiel gab es bis vor Kurzem bei den meisten Deutschen sehr große Zustimmungswerte für eine stärker ökologisch orientierte Gesellschaftspolitik. Macht die Regierung aber auch nur kleine Versuche in diese Richtung, kommt extrem viel Widerstand. Natürlich muss man sich fragen, wer sich eine Photovoltaikanlage auf dem Dach leisten kann, aber: Wir müssen unsere Haltung gegenüber der Politik als Bürger korrigieren und selbst mehr Verantwortung übernehmen, auch im Kleinen.

Wie kann das aussehen? 

Wir müssen bereit sein, Kompromisse und Einschnitte hinzunehmen. Und: Man müsste wieder runter in die Gemeinden, in die Vereine und wichtige gesellschaftliche Akteure stärken. Der Sport-, Musik- oder Schützenverein war früher ein wichtiges Bindeglied der Gesellschaft. Ein Ort des Interessensausgleichs, der Kommunikation, wo man Kompromisse und demokratische Grundprinzipien lernte und sich trotz unterschiedlicher Meinung auch mal hinter ein gemeinsames Ziel stellte. Eine andere Haltung immer nur abzulehnen tut unserem Land nicht gut. Das gilt für Bürger, Politiker und Medien.